„Was ist da eigentlich los in der EU“? oder „Wofür sind wir eigentlich wählen gegangen“?

In deiner Heimatstadt wird alle 5 Jahre ein kleines Zelt mitten auf dem Marktplatz aufgebaut. Du hast davon gehört, dass dort wohl etwas entschieden wird. Eigentlich hast du gar nicht so große Lust, dorthin zu gehen, da du nicht das Gefühl hast, wirklich etwas zu verpassen. Du weißt, dass in der Vergangenheit auch von deinen Freunden nur relativ wenige dorthin gegangen sind. Doch dieses Jahr ist es anders. An jeder Ecke wird darüber geredet, wie wichtig es ist, dorthin zu kommen. Auch in deinem Freundeskreis. Auf dem Heimweg von einem Kumpel kommst du an einer der zahlreichen Werbesäulen vorbei, auf dem dir ein Plakat mit dem überdimensional großen Gesicht eines Mannes mit einer Glatze ins Auge fällt. Darauf steht: Neuer Fußballplatz oder neue Turnhalle? Wenn du kicken willst, komm am 26. Mai vorbei und stimme für mich, ich (Benjamin Ball) setze mich dafür ein. Als du weiter gehst, siehst du an der nächsten Ecke ein Plakat mit dem Gesicht eines anderen Mannes. Dort steht: Wenn du turnen möchtest, komm am 26. Mai vorbei und stimme für mich (Rudolf Reck). Du siehst zwar auf anderen Plakaten auch noch ein paar andere Gesichter, die etwas anderes bauen wollen als die beiden, aber im Prinzip reden die Leute fast nur über Benjamin Ball und Rudolf Reck. Du entschließt dich, über deinen Schatten zu springen und hinzugehen. Tatsächlich sind viel mehr Leute gekommen als vor 5 Jahren. Es gibt eine Abstimmung, Benjamin Ball bekommt die meisten Stimmen. Dann kommt eine Frau namens Fridola Fragezeichen auf die Bühne, die du vorher noch auf keinem der Plakate gesehen hast. Du fragst dich: Was macht die da? Wo sind Rudolf Reck und Benjamin Ball? Es gibt eine Durchsage: „Danke, dass ihr gekommen seid und gewählt habt, aber die Organisator*innen konnten sich weder auf Benjamin Ball noch auf Rudolf Reck einigen. Wir entscheiden uns jetzt für Fridola Fragezeichen, die ist super“. Die Menschen in der Menge gucken sich verdutzt an. Du fragst dich, warum du überhaupt gekommen bist. Du scheinst nicht der Einzige zu sein, der sich diese Frage stellt…

So oder so ähnlich geht es aktuell vielen Menschen, die am 26. Mai 2019 zur Europawahl gegangen sind. Im Vorfeld der Wahl ging es eigentlich immer um die Frage, ob Frans Timmermans, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten oder Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Konservativen, Präsident der europäischen Kommission wird. Gut sieben Wochen nach der Wahl ist nun klar: Es wird keiner von beiden, obwohl die Fraktion um Manfred Weber die stärkste im Europäischen Parlament ist. Stattdessen soll nun auf einmal Ursula von der Leyen (aktuell Verteidigungsministerin der Bundesrepublik Deutschland) Kommissionspräsidentin werden. Doch wie ist das überhaupt möglich, obwohl sie vorher gar nicht als Spitzenkandidatin zur Wahl stand?

Zunächst muss man dazu wissen, dass wir Europäer*innen die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, gewissermaßen den europäischen Bundestag, gewählt haben.

Nähere Infos zu der neuen Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl bekommt ihr in folgendem Video:

Nähere Infos zur Wahl bekommt ihr hier:

Dieses von uns Europäer*innen am 26. Mai 2019 gewählte Parlament wählt wiederum den Kommissionspräsidenten bzw. die Kommissionspräsidentin (also gewissermaßen den EU-Regierungschef), der wiederum erst von den 28 Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer, die den Europäischen Rat bilden, vorgeschlagen wird. Dies ist eigentlich immer einer der Spitzenkandidaten der beiden stärksten Fraktionen des Parlaments – in diesem Fall wäre das also entweder der Deutsche Manfred Weber von den Konservativen (stärkste Fraktion) oder der Niederländer Frans Timmermans von den Sozialdemokraten (zweitstärkste Fraktion) gewesen. Der Europäische Rat konnte sich jedoch auch nach tage- und nächtelangen Verhandlungen nicht auf einen der beiden Spitzenkandidaten einigen. Frans Timmermans wurde bspw. von Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien nicht mitgetragen. Ursula von der Leyen wurde hingegen abgesehen von der Enthaltung Deutschlands letztlich von allen europäischen Staats- und Regierungschefs nominiert.

Die SPD hat allerdings bereits angekündigt, die Nominierung nicht mitzutragen, da sie nicht als Spitzenkandidatin aufgestellt war.  Dies könnte wiederum auch Auswirkungen auf die deutsche große Koalition haben, welche an diesem Streit sogar zerbrechen könnte. Dies waren die Reaktionen auf die Nominierung von Ursula von der Leyen:

Tagesschau-Video „Reaktionen auf die Nominierung von Ursula von der Leyen“

Reaktionen auf die Nominierung von der Leyens ab 2:27 min.:

Wenn es allein  um die Eignung von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin geht, sind sich die meisten Politikwissenschaftler*innen und Expert*innen weitestgehend einig, dass von der Leyen eine gute Wahl wäre.  Positiv werden ihr dabei vor allem ihre Regierungserfahrung, ihre exzellenten Sprachkenntnisse (spicht fließend Englisch und Französisch) sowie ihre körperliche Fitness angerechnet. Zudem gilt sie als „Europäerin von ganzem Herzen“ und ist, da sie als Verteidigungsministerin der Bundesrepublik bereits viel in Brüssel ist, bereits in vielen wichtigen europäischen Themen drin. Dennoch ist das Signal, keine der gehandelten Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten bzw. der EU-Kommissionspräsidentin zu nominieren, ein gefährliches  für die Demokratie und die dieses Jahr so hohe Wahlbeteiligung. Es vermittelt zahlreichen Wählinnen und Wählern Gefühl: „Was wir wählen, ist egal, die machen eh, was sie wollen“. Es begünstigt somit Politikverdrossenheit bzw. Partei- und Politikerverdrossenheit, welche nicht zuletzt in dem viel diskutierten Rezo-Video zum Ausdruck gebracht wurde. Bei all dem Ärger vergessen jedoch viele, dass sie durch die Wahl des Europäischen Parlaments dennoch maßgeblich mitentschieden haben, wie die Zukunft Europas aussehen soll und es auch in Zukunft nicht weniger wichtig sein wird, bei Wahlen seine Stimme abzugeben.

 

Falls ihr wissen wollt, was passiert,  wenn auch Ursula von der Leyen nicht vom Europäischen Parlament gewählt wird:

und

Tagesschau-Artikel „Eine Wahl mit Folgen“

Weitere Links und Artikel zu dem Thema:

Politikwissenschaftler Prof. Volker Kronenberg zur Eignung der Personalie von der Leyen (ab 2:20 min.)

Tagesschau-Artikel (mit Video) „Mehrheit sieht von der Leyen kritisch“

Zeit-Artikel über die neue Zusammensetzung des Europäischen Parlaments : „Die neuen Farben Europas“. Welche Fraktionen vertreten die Bürger*innen im neuen Europäischen Parlament? Wir zeigen die Wahlergebnisse aus fast 80.000 Regionen.

Tagesspiegel-Artikel aus dem Prozess zur Nominierung der Kommissionspräsidentin durch die 28 Staats- und Regierungschefs

FOCUS-Artikel zur Problematik des EU-Postenpokers

+++ Nachtrag +++: Wie ihr mit Sicherheit schon mitbekommen habt, ist Ursula von der Leyen zwischenzeitlich tatsächlich zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt worden (am 16. Juni 2019) und ist seit 01. Dezember 2019 als Nachfolgerin des Luxemburgers Jean-Claude Juncker im Amt.

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